Kleine Geschichte über die Kunst

Ausschnitt aus dem Text der Performance „Tatort Kunst“

Sara: […] Ich denke an nichts und fange an, weg zu driften. Ich drifte genüsslich weg. Weiter weg. Noch weiter weg.
Und plötzlich bin ich dort, wo ich den Abend verbracht habe: in einer Galerie in der Admiralitätsstraße.
Heute gibt es eine Vernissage. Anna Boghiguian stellt aus.
Da sitzt sie wie eine Königin an einem Tisch nahe dem Eingang.
Sie ist unheimlich fett. Man kann den Stuhl, auf dem sie sitzt, gar nicht sehen. Es ist so, als würde sie trotz ihres Gewichts schweben.
Sie trägt ein weites schwarzes Kleid wie ein Gewand, vielleicht ist es auch dunkel rot, es ist jedenfalls aus Samt und, glaube ich, bestickt. Sie hat zottiges graues Haar, stechende Augen und keine Zähne im Mund.
Sie redet mit niemandem und niemand redet mit ihr.
Alle Gäste sind mit sich beschäftigt. Die meisten haben sich gestylt. Jeder will jemanden kennen lernen, egal wie. Es ist so wie beim Monopoly, es gibt Gewinner und Verlierer. Man wird vorgestellt oder man muss etwas inszenieren und das endet oft kläglich. Auf Park Lane will jeder ein Hotel bauen, dafür muss man aber ein guter Spieler sein. Oder Glück haben.
Der Wein ist gut.
„Beim näheren Betrachten der Installation kristallisieren sich einzelne Themen heraus: die Geschichte des Handels, Sklaverei, Kolonialismus, Konflikte und Kriege. Machtverteilung und damit verbundene Ungerechtigkeiten“, heißt es auf dem Infoblatt; das ich eingesammelt habe.

Die Geschichte des Handels scheint hier niemanden zu interessieren.
Im besten Fall rechnen die Anwesenden, wie viel Geld die Person, der sie vorgestellt wurden, für sie wert sein kann.
Im schlechtesten Fall freuen sie sich, dass sie sich an dem Abend umsonst betrinken können.
Ein paar wollen nur gesehen werden. Sie lächeln, zeigen weiße Zähne.
Über Sklaverei und Kolonialismus denken sie nicht, bloß nicht, es könnte den Glanz ihrer Zähne trüben, es könnte sie auf einmal verrotten lassen. Die Künstlerin am Eingang hat ihnen Angst eingejagt.
Nein, sie schauen auch nicht in die Ecke, wo die jungen Künstler, alle in schwarz gekleidet, zusammen kauern und von einem Fuß auf den anderen treten, jederzeit bereit, vorzutreten, sich von der Gruppe zu lösen, um jemandem vorgestellt zu werden, egal wem.
Die Macht hat hier eine Dame, eine giftige Dame, sagen manche, die in einem gelben Kostüm, das dem Cover der Vogue würdig wäre, etwas hinkend, als würde sie tanzen, durch den Raum geht.
Alle machen ihr zuvorkommend den Weg frei.
Sie verbeugen sich, senken den Kopf, beinah ohne es zu merken, ohne den Gesprächspartner des Augenblickes etwas merken zu lassen.
Jeder hofft, ihr einen Lächeln entreißen zu können, manche junge Künstler auch Einige schauen schüchtern weg, die schon ahnen, dass sie die Loser von Morgen sind.
Sie sind da wegen des Weins.
Ein Mädchen werden sie nicht treffen, das wissen sie, an einem solchen Abend schauen die Mädchen weiter nach oben, sie stellen zur Schau, was sie überhaupt zur Schau stellen können, sie warten auf einen Wunder.
Sie trinken Wein, um sich eine Haltung zu geben.
Eine Requisite ist dafür immer gut, das weiß jeder Schauspieler.
Und das Salz auf den Bretzeln, die natürlich nicht fehlen, stachelt an, sonst könnte die eine oder andere anfangen, zu weinen.
Wen kümmert es?
Den ausgestellten Figuren bestimmt nicht, auf die auch kaum jemand achtet
Ich schaue sie an.
Trotz Sklaverei, Kolonialismus, Konflikte und Kriege schreiten sie stolz und leicht füßig voran.
Ich suche die historischen Fakten, von denen auf dem Infoblatt die Rede ist. Ich finde einen Kardinalen, ich finde Soldaten aus längst vergangenen Zeiten, ich finde eine Frau in Pink, wer ist sie?
Eine Kurtisane? Eine Prinzessin?
Eine gewöhnliche Frau, auf die der Blick der Künstlerin zufällig gefallen ist?
Glück gehabt!
Ich finde aber auch unscheinbare Figuren.
Figuren, die nur einen flüchtigen Blick würdig waren.
Schatten eigentlich, die einfach marschieren.
Die nicht wissen, wohin sie gehen und auch nicht fragen.
Wer weiß das schon?
Der, der vor einem oder der, der hinter einem geht? Das müsste man erstmal klären und die Frage selbst lässt sich nur schwer formulieren.
Alle sind ohnehin Zeugen aus morsch gewordenen Erinnerungen
mit der Zeit porös geworden
von den üblichen Lügen zersetzt.
Nichts stimmt, nichts!

Stimme (off): Jede Erzählung ist eine Fälschung.

Sara: Vielleicht brauchen wir andere Erzählungen. Bestimmt brauchen wir andere Erzählungen. Wir brauchen wahre Erzählungen!

Stimme (off): Es gibt keine Wahrheit.

Sara: Man muss sie suchen.

Stimme (off): Kennst du den Witz: Wenn zwanzig Männer ihren Schwanz in einen Eimer schmeißen müssten, würden sie ihn in der Menge nicht mehr wieder erkennen.
So ist es mit der Wahrheit.

Sara: In dem Augenblick huscht ein Angestellter der Galerie an mir vorbei, ein Roboter mit perfekter Pompadour Frisur.

Stimme (off): Wir haben das Ende der Geschichte hinter uns, nach zwanzig Jahren muss man das endlich akzeptieren. Die Kunst sollte sich nicht zu ernst nehmen. Die Politik übrigens auch nicht.
Das Leben ist ein Spiel und Kunst ist ein Geschäft.
Die Figuren, die du anschaust, schreiten voran, aber sie gehen nirgendwohin
Auf sie wartet die nächste Galerie, das nächste Museum und nicht die nächste Schlacht.
Du glaubst doch nicht, dass hier irgendjemand Lust hat, sich ernsthaft mit Sklaverei, Kolonialismus, Konflikten und Kriegen auseinanderzusetzen?
Sich gar schuldig zu fühlen?

Sara: Es ist vielleicht altmodisch aber ich glaube, dass die Kunst versuchen sollte, die Wahrheit über die Welt zu sagen.

Stimme (off): Dann hast du nichts verstanden.

Sara: Der Roboter huscht zurück an mir vorbei und plötzlich bin ich nicht mehr in der Galerie in der Admiralitätsstraße. […]

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